Mit Kinderaugen

 

Ich möchte noch einmal als Kind im Garten meiner Großeltern spazierengehen: Den Duft der roten Johannisbeerblüten atmen, die Sonne in den Fenstern der benachbarten Hinterhöfe tanzen sehen und dazu ein Stück Himmelsblau, ganz oben, hoch über dem großen Apfelbaum in der Mitte des kreisrunden Rasens.

Noch einmal möchte ich Freundschaft und Ableger über den Gartenzaun tauschen, hinter dem das ganz andere, das spannend und unerreichbar Fremde, begann - die Haut warm und braun gebrannt, müde vom Hüpfen und Murmelspielen.

Ich würde mich noch einmal sehr interessiert vor den Riesenwürmern ekeln, die bei Regen glitschig und heimatlos auf den Pflastersteinen entlangkrochen und noch einmal ertappt und amüsiert den krummen Haken an der Hauswand betrachten, mit dem ich das Nachbarskind erschreckte, das Angst vor Würmern hatte - ich nicht.

Ich würde für diese Reise in die Vergangenheit auch das gewisse notwendige Örtchen-ohne-alles auf dem Hof in Kauf nehmen. Bei Tag war es ja nicht so schlimm, nur im Dunkeln, wenn die Gespenster kamen.

Immerhin besaß es den Luxus eines verstaubten Glasfensters für ausreichend viel Licht und, wahrhaft weit abgeschieden, unendlich viel Ruhe.

Noch einmal würde ich die geheimnisvolle Rumpelecke durchstöbern, mit Brettern, Gartenmüll und sorgloser Unordnung, und meinen stolzen Hahn im Hühnerhof meiner Großmutter begrüßen, den ersten Preis irgendeiner Tombola.

Ich könnte noch einmal ehrfürchtig und mit sauberen Schuhen die Waschküche betreten, mit ihren Sauberkeitsdämpfen von 95°, Soda- und Grüne-Seifegeruch und den sehr wichtigen Hausfrauen. Ich dürfte noch einmal die eng eingesperrten Kaninchen der Untermieter füttern und streicheln und in der schon etwas baufälligen Laube vom Erwachsensein träumen: vom Planen, vom Bauen, von Freiheit, von Prinzen, vom Säen und Ernten, von Tanz und Gesang und vom ganz großen Glück - immer nur vorwärts und niemals zurück.

Das Loch im Knie und der Streit von gestern waren dabei schon längst wieder vergessen, nur das „Jetzt“ zählte jetzt: die Johannisbeerblüten, die grüne Seife, das Gerümpel, das frischgeteerte Laubendach und der Apfelbaum, die ewigen Träume, das Nachbarskind und der Sieg beim letzten Murmelspiel.

Das hieße, noch einmal die Welt mit Kinderaugen umfassen und das Böse nicht sehen, weil es das Kind nicht betrifft - auch wenn es es trifft; sich noch einmal ganz eng verbunden wissen mit dem Sonnenschein, den Regentropfen und der lehmigen Erde und Engel, Elfen und Feen für selbstverständlich halten.

Das hieße, noch einmal sich und die Welt als Einheit erleben, bevor sich der Vorhang vor der Bühne des Lebens hebt - und zerteilt.


Anke Neumann

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