Legenden – pro und contra
Text zur Liturgischen Nacht 2002
„ Ich hasse diese ganze Legendenscheiße“, mit diesem zornigen Zitat eines aufgeklärten Zeitgenossen wurde ich unlängst konfrontiert. Ich musste etwas schlucken. Legenden als geistige Volksverdummung, als historischer Ballast, als veraltete Seekarten, mit denen man schnell im falschen Hafen oder auf einem Riff landen kann? Das war ein ziemlich harter Schuss vor den Bug. Ich buchte sichtlich beunruhigt eine Forschungsreise ins Land dieser literarischen Oldtimer. Ich wollte wissen, wer denn nun wohl auf dem falschen Dampfer ist.
Dies sind einige meiner mitgebrachten Schätze:
Am Beginn der Legende steht stets die kultische Verehrung einer Person; Legenden ranken sich um einen Hoffnungsträger. Je weniger historisch er sich belegen lässt, umso mehr blüht die Legende. Der historische Nikolaus liegt in dickem Nebel verborgen. Zur Entstehung der Legenden vermischte sich die Gestalt des Nikolaus, der Bischof von Myra war, sogar unentwirrbar mit dem Leben eines anderen namensgleichen Bischofs von Pinora.
Die Legenden belegen etwas grotesk, dass der Hl. Nikolaus schon vollkommen auf die Welt kam. So stand er schon am ersten Lebenstag aufrecht in der Wanne, als er gebadet wurde. Am vierten und sechsten Tag der Woche saugte er nur einmal an der Mutterbrust. Es waren die Fastentage.
Trotz solcher Übertreibungen ist uns mit der Kultgestalt des Hl. Nikolaus ein wohltuend heiler Heiliger überliefert - legendäre Liebe ohne scharfe Ecken und Kanten. Vielleicht ist es zu zweit eben leichter, vollkommen zu werden...
Die Legenden selbst entstanden unter dem Einfluss der Kirche zur Erbauung ihrer Gläubigen. Sie sollten klären, belehren und erziehen im Sinn der christlichen Heilslehre. Sie taten dies in einem phantasievollen Bildergemisch und Inhalten, die oft mehr über denjenigen aussagen, der sie geschrieben hat – und längst nicht immer Gutes – als dass sie eine befreiende Wahrheit verkünden.
Trotzdem berührt uns an manchen Legenden etwas. Legenden können uns „be-zaubern“ im wahrsten Sinne des Wortes gerade durch ihre Unwahrscheinlichkeit. Sie rühren an unsere Sehnsucht nach dem Guten und Schönen gerade weil unsere Erfahrungen so oft von Not und Dunkelheit geprägt sind. Einen Anker wirft man auch nicht im sicheren Heimathafen, einen Anker wirft man auf freier See und die ist oftmals rau und stürmisch, unsicher und gefahrenvoll.
Eine Kernaussage der Legenden ist die Hoffnung, und diesen Anker werfen sie auf die Sehnsucht des menschlichen Herzens nach Erlösung.
Dabei will die Legende eindeutig kursbestimmend sein: sie will Wesen und Sinn der jenseitigen Kräfte endgültig und verpflichtend erklären, sagt der Literaturwissenschaftler Max Lüthi. Aber der Geist lässt sich nicht erklären. Wer Gott allgemeingültig erklären will, meint, er könne den Wind festhalten. Versuchen Sie es doch einmal – Ihre Hand wird immer leer sein.
In dieser Absicht sind die Legenden gestrandet. Vom Winde verweht...
Ihre Signalfahne – der moralische Appell an den Leser – wurde geborgen und als Reliquie in Rom verwahrt, wo sie von Zeit zu Zeit als Warnsignal gehisst wird. Darunter flutet das Leben. Es verläuft nun einmal nicht nach Vorschriften oder Kommandos. Es bewegt und entwickelt sich im Widerspruch von Gut und Böse wie das Meer bei Ebbe und Flut.
Bewegt war auch die Antwort der Gläubigen auf die Legenden: Es schuf sich schöne und vielfältige Rituale: Mit Geschenken, Lichterprozessionen, Festtagen und Geselligkeit wird der rettende Anker der Hoffnung an Land als Zeichen gefeiert.
So hatten die Legendenschreibern sich das nicht gedacht. Wer gibt denn nun den Kurs an?
Folgen Sie doch einfach der Kompassnadel Ihres Herzens, aber lassen Sie sie von Zeit zu Zeit wieder gut einnorden! (Z.B. in einer ökumenischen Liturgischen Nacht! )
Beachten Sie auch den Lauf von Sonne, Mond und Sternen! Kometen sind als Wegweiser besonders interessant, aber man braucht dafür etwas Übung in der Navigation.
Trotzdem: Wenn einem alten Kap Hornier beim Lied von St. Niklas, der ein Seemann war - ein Schutzpatron - Tränen in die Augen treten, zeigt mir dies, wie sehr wir die Personifizierung des Heiligen als Symbol unserer allertiefsten Sehnsucht nach Sinn und nach dem Guten trotz aller Aufklärung brauchen können - nicht als moralische Leitfigur, sondern als Trost, als ein Vertrauenszuspruch in den rauen Stürmen des Lebens.
Es zeigt mir aber auch darüber hinaus, dass wirkliche Religiösität sich in Bildern wiederfinden kann, sie kann nicht durch Bilder gemacht werden. Der Besitz einer Seekarte – ob alt oder neu - ersetzt nicht die persönliche Erfahrung von Wind und Wellen.
Ein Glück, dass der Hl Nikolaus jedes Jahr jedenfalls einmal zu uns kommt...
Anke Neumann