Die Flucht

Schon früh am Morgen war mir klar:
Der Tag heut' macht mich angreifbar.
Bereits mein Spiegelbild knurrt: „Buh!“
und grüßt nicht freundlich: "Hallo, Du!"
Beim Zähneputzen voller Schrecken
muss einen Pickel ich entdecken.
Der Lump war gestern noch nicht da,
wo ich ihn heute glänzen sah.
Und dann beim Duschen aufgewacht
ist mir der Alptraum von heut' Nacht.
Ich wäre ihm so gern entwichen,
doch kam er hämisch nachgeschlichen.
Beherzt stellt' ich das Wasser kalt
und hoffte, er verzieht sich bald.
Dafür verbrennt mir jetzt der Toast,
ich greif zur Zeitung schnell als Trost,
doch scheint der Trost sehr trügerisch:
die Schlagzeile wirkt lügnerisch,
der Leitartikel ist zu trocken,
es fehlt auch noch der linke Socken,
der rechte hat dafür ein Loch
und schließlich schaffe ich es doch:
Ich knüpf' aus Ärger einen Strick -
den rechten Socken fest im Blick -
der Strick wird um das Loch geschlungen,
die Flucht vom Missmut ist gelungen.
Der Pickel wird auf einmal klein,
mein Spiegelbild ist wieder mein!

Anke Neumann